München - Hauptstadt der griechisch-türkischen Solidarität
München ist seit Jahrzehnten eine transkulturelle Stadt. Mehr als 110 verschiedene Nationalitäten, Religionen und Glaubensrichtungen existieren hier friedlich mit- und nebeneinander. Dieses Projekt befaßt sich mit den Münchner:innen türkischer und griechischer Herkunft.
Nach offiziellen Zahlen leben in München ca. 38.000 türkische und 27.000 griechische Staatsbürger*innen. Inklusive derjenigen, die mittlerweile die deutsche Staatsbürgerschaft angenommen haben, dürften die Zahl der türkisch-/griechisch-stämmigen Bürger*innen noch wesentlich höher liegen. Man geht von 8-9 % der Stadtbevölkerung aus, die türkischen oder griechischen Hintergrund haben. Das Zusammenleben dieser Menschen ist in München geprägt durch Kooperation und einem lebendigen Miteinander, was hinsichtlich der bewegten und teilweise tragischen Geschichte, die diese Völker verbindet, nicht selbstverständlich ist.
Auf beide gesellschaftliche Gruppen werden positive, sowie auch negative Stereotypen projeziert: Auf der einen Seite das gute Essen, die Gastfreundschaft, die mediterrane Herzlichkeit u.s.w., auf der anderen Seite tauchen oft auch sorgenvolle Fragen auf: „Gibt es da nicht immer wieder Spannungen zwischen den beiden Völkern? Die mögen sich doch eigentlich nicht so ganz leiden, oder? Dabei sind sie sich doch so ähnlich?“. Die historischen Hintergründe sind tatsächlich geprägt von Krieg, Vertreibung und Rivalität. Doch sind die historischen Fakten den wenigsten Münchner*innen bewusst, denn diese Spannungen treten im Alltag der Stadt kaum zu Tage.
Das liegt daran, dass München eine besondere Rolle in der Migrationsgeschichte Deutschlands spielt: Die Bayerische Landeshauptstadt München war Dreh- und Angelpunkt für Ankunft und Weiterreise von hunderttausenden Gastarbeitern zu Zeiten des Anwerbeabkommens ab den frühen 60‘ern. Die Arbeitsmigration brachte es mit sich, dass sich all die Nachfahren der beiden, durch Krieg und Vertreibung aufgeriebenen Völker, sich nun in München am Fließband trafen, oder eben in Arbeiter*innenwohnheimen. Durch eine Fügung des Schicksals hatten sie in ihrer neuen Wahlheimat die Möglichkeit, sich über ihre Erinnerungen und auch über ihre Traumata auszutauschen. Dies geschah sowohl auf unmittelbar-spontane Weise, z.B. während der Arbeit, oder im Nachbarschaftsverhältnis, oder auf soziokultureller Ebene. Letzteres liegt vor allem in der Tradition der linken Arbeiterbewegung begründet: Früh haben sich Initiativen und Kooperationen gebildet, die das türkisch-griechische Miteinander solidarisch förderten. Auf politischer Ebene organisierten sie sich in Vereinen, Parteien und Gewerkschaften. Aber auch auf kultureller Ebene tat sich viel. So waren zum Beispiel Griech*innen beim Aufbau der Türkischen Filmtage im Gasteig beteiligt und umgekehrt. Es gab regelmäßig stattfindende Veranstaltungen wie zum Beispiel die Tage der Türkisch-Griechischen Freundschaft. Türkisch- und griechisch-stämmige Musiker*innen sind es in München seit Jahren gewohnt gemeinsam aufzutreten und die gemeinsamen Volkslieder in beiden Sprachen darzubieten.
Trotzdem begleiten jedoch viele Münchner*innen mit griechischer oder türkischer Abstammung die Traumata ihrer Vorfahren bis zum heutigen Tag. Der Umgang mit ihnen ist gar nicht so leicht, wie es oft scheint. Eine Kulturinitiative von Costas Gianacacos und Tuncay Acar will nun die vorherrschende vertrauensvolle Basis nutzen, um im gemeinsamen Miteinander einen Schritt weiter zu gehen und auch die schmerzlichen Themen der gemeinsamen Geschichte beleuchten. Ziel ist der Versuch, eine Möglichkeit des gemeinsamen Erinnerns zu entwerfen, das in die Zukunft weist.
Welche konkreten historischen Geschehnisse sind gemeint? Sie sind zahlreich und erstrecken sich zeitlich über Jahrtausende, geographisch vom Balkan, über das griechische Festland bis an die Grenze zwischen Anatolien und dem Nahen Osten. Das Ereignis, welches als zentraler Aufhänger für dieses Projekt dient, fungiert gleichzeitig auch als markanter Wendepunkt in der neuzeitlichen Geschichte Europas: der berüchtigte Brand der Metropole Smyrna/Izmir an der anatolischen Westküste, deren überwiegend griechische Bevölkerung im Zuge der Kriegs Vorkommnisse im Jahr 1922 fast komplett aus der Stadt getrieben wurde. In der griechischen Literatur wird dieses Ereignis immernoch als die „Kleinasiatische Katastrophe“ bezeichnet.
Jedoch geht es hier nicht um eine politische, oder historische Verurteilung von Nationen, Personen oder Bevölkerungsgruppen, sondern lediglich um den Versuch, kollektive und individuelle Erinnerungen und Traumata zu verarbeiten, zu archivieren und emotional greifbar und verwaltbar zu machen.
Es geht darum, der teilweise doppelten und dreifachen Entwurzelung durch Krieg und Vertreibung im vorigen Jahrhundert Rechnung zu tragen. Aber auch darum, die neuen Räume, die durch die Arbeitsmigration der letzten Jahrzehnte entstanden, als Chance zu nutzen. Auf neutralem Boden werden neue Wege gefunden, all die Konflikte in eine friedensfördernde und zukunftsweisende Bewusstwerdung übergehen zu lassen. Dazu müssen jedoch historische Fakten begriffen und die Hintergründe von langwierigen Konflikten erkennbar gemacht werden. Es muss begreifbar werden, welche Auswirkungen dieser Konflikt auf die Millionen Menschen hatte, die davon betroffen waren, welche Identitätsstrukturen aus ihm erwachsen sind.
Für die Stadtgesellschaft Münchens bietet dies die Gelegenheit, einen wichtigen Aspekt ihrer kulturellen Vielheit zu entdecken und zu verstehen. Das griechisch-türkische Verhältnis ist nun auch Teil der Stadtgeschichte. Es zu verstehen heisst gleichzeitig, einem nicht unwesentlichen Teil der Stadtbevölkerung mit seiner spezifischen Geschichte näher zu kommen. Ein offener und ehrlicher Umgang mit der gemeinsamen Geschichte schafft vertrauen, weckt Interesse aneinander, öffnet Wege zueinander.
Für Costas Gianacacos und Tuncay Acar ist dieses Projekt gleichzeitig eine Würdigung all der Menschen, die über Generationen hinweg die Migration als wichtigen Teil ihrer menschlichen Entwicklung etabliert haben und auch eine Liebeserklärung an ihre Heimatstadt München.